Münster (lwl). Seit Ende der 1960er-Jahre standen Anstalten wie Psychiatrien sowie Heime der Jugendhilfe und des Behindertenwesens in der Kritik. Sie galten als starres Instrument der Sozialpolitik, als totale Institutionen und Widerspruch zu zeitgemäßen Lebensformen. Mit dem jetzt veröffentlichten Buch “Ende der Anstalten? Großreinrichtungen, Debatten und Deinstitutionalisierung seit den 1970er-Jahren” bietet der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) erstmals einen systematischen Überblick über die sogenannte Deinstitutionalisierung dieser Einrichtungen.

“Der gesellschaftliche Umgang mit Hilfebedürftigen und Randgruppen sollte nicht in ein gettoisierendes System wie den damaligen Anstalten münden, sondern den individuellen Bedürfnissen und Ansprüchen der Betroffenen entsprechen”, betont LWL-Direktor Matthias Löb. “Seither entwickelten sich – auch beim LWL – ambulante, offene, integrative und gemeindenahe Leistungsangebote”, so Löb.

Mit der Studentenbewegung seit 1968 setzte ein gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland ein, der unter anderem auch zu Wandlungen des Sozialstaates führte. In der Kritik standen nicht nur der Charakter gettoisierender Massenverwahrung und sozialer Isolation, der den anstaltsförmigen Einrichtungen anhing. Es ging ebenso gegen rigide Anpassungszwänge und Strukturen der Fremdbestimmung, die das Anstaltsregime auszeichneten. Es fehlte häufig der Raum für Individualität und Selbstverwirklichung in den geschlossenen Heimen.

Die Autor:innen des Buches spüren diesen Entwicklungen auf unterschiedlichen Feldern nach. Sie fragen nach Entstehungsbedingungen, Widersprüchen und Beharrungskräften. Schließlich war der Wandel keine konfliktfreie Erfolgsgeschichte. “Das Recht auf ein selbstbestimmtes Le-en musste von den Betroffenen oft erstritten werden”, betont Prof. Dr. Malte Thießen, Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte und Mitherausgeber des Sammelbandes. “Die Etablierung neuer Formen sozialer Hilfe ging einher mit neuen Teilhabebegriffen und sozialen Rechten für betroffene Problemgruppen. Das Ende der Anstalten veränderte somit den Blick auf die Gesellschaft – und umgekehrt”, so Thießen.

Regional und national vergleichend nehmen die Autor:innen die Heimerziehung und die Jugendhilfe, die Versorgungsstrukturen für Menschen mit Behinderungen, die Psychiatrien sowie den Umgang mit Strafgefangenen, Obdachlosen und Suchterkrankten in den Blick.

Der Band ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Tagung, die die Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger (SV:dok), die Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz sowie das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte am 14. und 15. März 2019 im LWL-Landeshaus in Münster ausgerichtet haben.

Wilfried Rudloff, Franz-Werner Kersting, Marc von Miquel und Malte Thießen (Hg.):
Ende der Anstalten?
Großeinrichtungen, Debatten und Deinstitutionalisierung seit den 1970er-Jahren
Paderborn 2022, S. 326, zahlreiche Abbildungen, 64 Euro
ISBN 978-3-506-70836-6

Pressekontakt:
Kathrin Nolte, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und Thorsten Fechtner, LWL-Pressestelle, presse@lwl.org

 


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