Pressemitteilung

Forschende der Universitätsmedizin Mainz entdecken neuen Therapieansatz für Multiple Sklerose und Alzheimer

Eine Gruppe von Lymphozyten kann entzündliche Erkrankungen im zentralen Nervensystem fördern

(Mainz, 17. Dezember 2021, vw) Eine bisher noch wenig erforschte Gruppe von lymphoiden Immunzellen, die sogenannten Innate Lymphoid Cells (ILC) 3, kann bei der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS) Entzündungsreaktionen fördern oder verstärken. Das haben Forschende des Instituts für Molekulare Medizin der Universitätsmedizin Mainz gemeinsam mit Wissenschaftler:innen aus Berlin, New York und Paris herausgefunden. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen bieten einen neuartigen Ansatz für die Entwicklung von Therapien bei MS und anderen entzündungsbedingten Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS), wie Alzheimer und Parkinson. Die Studie wurde jetzt in der renommierten Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht.

Bei den ILC3-Zellen handelt es sich um eine Gruppe von Lymphozyten, die als wichtige Akteure des angeborenen Abwehrsystems gelten. Sie schützen den Körper, indem sie dem Immunsystem dabei helfen, nützliche Mikroben, wie beispielsweise Darmbakterien, zu tolerieren und Entzündungen im Verdauungstrakt und in anderen Organen zu unterdrücken. Normalerweise kommen die ILC3-Zellen nicht im Gehirn vor. Bei autoimmun-entzündlichen Erkrankungen können sie jedoch aus der Blutbahn in das zentrale Nervensystem gelangen.

„Unsere Arbeit erweitert das Wissen über die immer noch unzureichend erforschten ILC3-Zellen. Wir konnten zeigen, dass sich verschiedene Typen dieser Immunzellen an unterschiedlichen Stellen im Körper finden, die unter bestimmten Voraussetzungen eine schützende oder eine schädigende Wirkung haben können“, erläutert Univ.-Prof. Dr. Ari Waisman, Leiter des Instituts für Molekulare Medizin der Universitätsmedizin Mainz.

Unter der Leitung von Professor Waisman und Dr. Gregory Sonnenberg, Professor für Mikrobiologie und Immunologie an der Cornell Universität (Weill Cornell Medicine) in New York, untersuchte ein internationales Forscherteam, inwieweit die ILC3-Immunzellen am Krankheitsgeschehen von entzündlichen ZNS-Erkrankungen beteiligt sind. Im Tiermodell konnten die Wissenschaftler:innen zeigen, dass die ILC3-Zellen im ZNS anstatt einer entzündungshemmenden eine entzündungsfördernde Wirkung haben.

„Eine entscheidende Erkenntnis für uns war, dass der entzündungsfördernde ILC3-Zelltyp erst im ZNS reifte. Diese ILC3-Zellen fungierten im Gehirn als sogenannte Antigen-präsentierende Zellen: Sie zeigten den T-Zellen, einer anderen Gruppe von Immunzellen, Teile des Myelinproteins. Dieses ist Hauptbestandteil der Isolierschicht um die Nervenfasern. Auf diese Weise regten sie die T-Zellen dazu an, gegen Myelinbestandteile gerichtete Entzündungsprozesse auszulösen. Die dadurch verursachten Nervenschäden führten im Tiermodell zu MS-ähnlichen Krankheitssymptomen“, erklärt Dr. Tommy Regen, Wissenschaftler am Institut für Molekulare Medizin der Universitätsmedizin Mainz und einer der Studienautoren.

Die Untersuchungen fanden maßgeblich im Tiermodell der MS, der sogenannten Experimentellen Autoimmunen Enzephalomyelitis (EAE), statt. Um zu prüfen, ob die Erkenntnisse auch auf die Situation im menschlichen Körper übertragen werden können, untersuchten die Wissenschaftler:innen zudem Blut und Gewebe von MS-Erkrankten. Auch in diesen Proben konnten sie entzündliche (inflammatorische) ILC3-Zellen nachweisen.

Ausgehend von den neuen Erkenntnissen entdeckten die Forschenden darüber hinaus zwei unterschiedliche Ansätze, mit denen T-Zell-vermittelte Entzündungsreaktionen gehemmt werden können. Im Tiermodell konnten sie eine EAE-Erkrankung zum einen verhindern, indem sie den ILC3-Zellen ein Schlüsselmolekül entzogen, das für die Antigenpräsentation notwendig ist. Neben dieser direkten Hemmung der Aktivität inflammatorischer ILC3-Zellen gelang es den Wissenschaftler:innen im Tiermodell, ILC3-Zellen so zu verändern, dass sie der Aktivität der autoreaktiven T-Zellen entgegenwirkten.

„Wir haben gezeigt, dass die schützenden Eigenschaften von ILC3-Zellen im Darm therapeutisch nutzbar gemacht werden können. Mit Hilfe genetischer Veränderungen haben wir diese Zellen dazu gebracht, dauerhaft ein Myelin-Antigen zu präsentieren. Das führte letztlich zu einer immunologischen Toleranz des Körpers gegenüber diesem Antigen und verhinderte so eine EAE-Erkrankung“, erläutert Dr. Regen.

Von der chronisch-entzündlichen ZNS-Erkrankung MS sind weltweit mehr als zwei Millionen Menschen betroffen, davon mehr als 200.000 in Deutschland. Auch bei anderen weit verbreiteten neurologischen Erkrankungen, darunter Alzheimer und Parkinson, spielen chronisch-entzündliche Prozesse im ZNS eine wesentliche Rolle. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass sie den altersbedingten kognitiven Abbau beim Menschen entscheidend beeinflussen. In jüngster Zeit wurden entzündliche T-Zell-Reaktionen im Gehirn zudem mit neurologischen Symptomen im Zusammenhang mit der SARS-CoV-2-Infektion in Verbindung gebracht.

„Unsere Erkenntnisse könnten die Basis für weiterführende Forschungsaktivitäten zu neuen Behandlungsoptionen für MS und andere Erkrankungen bieten, die mit einem fortschreitenden Verlust von Nervenzellen einhergehen“, betont Professor Waisman.

 

 

Originalpublikation:

John B Grigg, Arthi Shanmugavadivu, Tommy Regen, Christopher N Parkhurst, Anees Ahmed, Ann M Joseph, Michael Mazzucco, Konrad Gronke, Andreas Diefenbach, Gerard Eberl, Timothy Vartanian, Ari Waisman, Gregory F Sonnenberg. Antigen-presenting innate lymphoid cells orchestrate neuroinflammation. Nature 2021 Dec 1. Online ahead of print.

DOI: 10.1038/S41586-021-04136-4

 

Bildunterschrift:
Darstellung eines Entzündungsherds (Läsion) im ZNS einer an EAE erkrankten Maus, in welchem vermehrt ILC3-Zellen (grün) in der Nähe oder in direktem Kontakt mit T-Zellen (rot) zu finden sind.

 

Bildquelle:
© Dr. Christopher N. Parkhurst (
Weill Cornell Medicine New York) / Universitätsmedizin Mainz

Kontakt:
Univ.-Prof. Dr. Ari Waisman, Leiter des Instituts für Molekulare Medizin, Universitätsmedizin Mainz 

Pressekontakt:
Veronika Wagner, Unternehmenskommunikation, Universitätsmedizin Mainz 

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