Westfalen-Lippe (lwl). Wann ist die Coronapandemie überstanden? Zu dieser Frage gibt es verschiedene Szenarien. Prof. Dr. Malte Thießen, Medizinhistoriker und Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte, gibt aus historischer Sicht eine Antwort.

Herr Thießen, man hört zum Beispiel die Aussage, dass jede Pandemie drei Jahre dauere. Können Sie das mit Blick auf die Geschichte bestätigen?
Eine festgelegte Dauer von drei Jahren ist leider kein Naturgesetz. Die Pest wütete zum Beispiel 1346 über sieben Jahre und Cholera-Pandemien gibt es seit dem 19. Jahrhundert immer wieder. Die Spanische Grippe von 1918 bis 1920 wiederum war zwar nach zwei Jahren vorbei, allerdings haben wir seither immer wieder mit ihren Nachfolgerinnen, den Influenza-Wellen, zu tun. Die letzte Pocken-Epidemie von 1870 bis 1873 in Deutschland hatte tatsächlich drei Jahre Bestand. Die Pocken kamen jedoch selbst im 20. Jahrhundert immer wieder zu uns zurück. Nach Nordrhein-Westfalen wurden sie noch in den 1960er-Jahren mehrfach wieder eingeschleppt. Die Pocken wurden schließlich 1979 von der Weltgesundheitsorganisation als ausgerottet erklärt. Es ist die einzige Seuche, die heute dank Impfungen als besiegt gilt. Allerdings brauchte die Menschheit dafür einen ziemlich langen Atem. Erste systematische Impfprogramme gegen die Pocken starteten nämlich bereits Anfang des 19. Jahrhunderts.

Wagen Sie eine Voraussage, wann die Coronapandemie beendet ist?
Im Moment werden zwei Szenarien diskutiert, wie Pandemien enden. Das eine ist das Pockenmodell, das andere ist das Influenza-Modell. Ich würde natürlich das Pockenmodell sehr bevorzugen, weil wir dann endlich endgültig Ruhe vor Covid-19 hätten. Wahrscheinlicher ist das Influenza-Modell. Das heißt, wir werden – genauso wie mit dem Grippe-Virus – wohl langfristig mit Corona leben müssen. Wir haben ja alle erlebt, dass Corona ein sehr flexibles Virus ist, das mit einer hohen Mutationsgeschwindigkeit immer wieder zurückkommt. Deswegen ist die Vorstellung, dass man dieses Virus ausrotten kann, erst einmal unrealistisch. Einen kleinen Trost bietet das Influenza-Modell aber doch: Weil immer mehr Menschen geimpft sind und eine Infektion überstanden haben, erhöht sich bei vielen die Grundimmunität, die selbst gegen die meisten Mutationen eine gewisse Grundlage bietet. Corona wird also erst einmal immer wieder zurückkommen, spätestens im kommenden Herbst, allerdings sehr wahrscheinlich weniger bedrohlich. Wir werden also nicht im ewigen Panikmodus verharren müssen, sollten aber wachsam bleiben.

Dennoch hat man mehr und mehr den Eindruck, dass Corona in der Politik und im alltäglichen Leben nur noch eine kleine Rolle spielt
Eine weitere historische Erkenntnis ist, dass Menschen sich an Pandemien gewöhnen. Man macht seinen Frieden mit ihr und lernt, mit den Toten zu leben. Das spiegelt sich auch in der Corona-Pandemie wider: Bis vor kurzem hatten wir immer noch hohe Infektionszahlen und schrecklich hohe Todeszahlen zu beklagen, aber sie spielten in der Öffentlichkeit im Gegensatz zum Anfang der Pandemie nur noch eine geringe Rolle. Viele Menschen stumpfen bei diesem Thema mehr und mehr ab.

Wenn man das Virus nicht ausrotten kann, dann ist das doch vielleicht ein nötiger Umgang mit der Seuche?
Ja, auf der einen Seite ist Gewöhnung durchaus nachvollziehbar und eben sehr menschlich. Andererseits ist sie aber auch ein Problem. Corona sollte für uns eine Lehre sein: Seuchen sind eben nicht von gestern, so gerne ich das als Seuchenhistoriker behaupten würde. Seuchen sind vielmehr der Normalzustand und werden immer wieder kommen. Wir sollten daher aufmerksam bleiben. Dank Impfungen und Antibiotika lebten wir seit den 1970er-Jahren im Zeitalter der Immunität. Vor Corona waren Infektionskrankheiten für uns etwas Altertümliches oder etwas von fernen Kontinenten, aber nichts, was unser Problem sein könnte: Die Seuche, das waren die anderen. Diese Vorstellung hat uns Anfang 2020 in falscher Sicherheit gewogen und den Beginn der Pandemie allzu sorglos angehen lassen. Der Blick zurück, in die Seuchengeschichte, ist also auch ein Appell für die Zukunft, dass wir unser Aufmerksamkeitsfenster für Pandemien zumindest ein Stück weit offen halten sollten.

Pressekontakt:
Markus Fischer, LWL-Pressestelle und Kathrin Nolte, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte (Mo, Mi, Do) presse@lwl.org

 


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