Marsberg (lwl). Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) trauert um Waltraud Matern, die im Alter von 95 Jahren in Marsberg verstorben ist. Sie hat im LWL und darüber hinaus in der Psychiatrie die Entwicklung des Berufsbildes von der “Fürsorgerin” zur modernen Sozialarbeiterin aktiv mitgestaltet. Beim LWL angefangen hat sie 1960 als Fürsorgerin in der damaligen LWL-Landesheilanstalt Eickelborn. Von 1972 bis 1980 war Waltraud Matern im damaligen Landeskrankenhaus Marsberg tätig. Einer Zeit voller Aufbrüche und Umbrüche in der Psychiatrie. Die sogenannte “Psychiatrie-Enquête”, der “Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland”, eine breit angelegte Untersuchung der Behandlung von psychisch kranken Menschen, offenbarte Anfang der 1970er Jahre gravierende Mängel in der Versorgung psychisch Kranker.

Der Glaube an das Besondere eines jeden einzelnen Menschen und an die größtmögliche Selbstbestimmung des eigenen Lebens habe Waltraud Matern entscheidend geprägt, betont die frühere Kollegin Materns in Marsberg, Ingrid Vahlhaus. “Dazu kam noch eine christliche Haltung. Und als Bochumer Bergmanns-Tochter die Bodenständigkeit aus dem Pott”, so Vahlhaus.

Ingrid Vahlhaus erinnert sich: “Psychisch kranke Menschen mussten erst wieder lernen, persönliche Bedürfnisse wahrzunehmen und zu artikulieren. Ziel war es, dass wir als Personal nicht länger für die Menschen entscheiden, sondern sie zur eigenen Entscheidungsfähigkeit führen.” Waltraud Matern sei es gelungen, Beziehungen aufzubauen, Vertrauen zu gewinnen und Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten, so Vahlhaus. “In Marsberg gab es zum Beispiel eine große Station mit 30 Frauen mit festen Strukturen: einmal die Woche gab es eine Gesprächsrunde. Erst sagte niemand etwas. Waltraud Matern knüpfte an Vertrautes und Bekanntes an wie gemeinsames Singen von Volksliedern. Nach einem längeren Zeitraum hinweg öffneten sich die Frauen. In vielen Gesprächen entwickelten sich dann gemeinsame Überlegungen über Wünsche, Empfindungen, Vorstellungen und das Umsetzen im Alltag.”

Waltraud Matern hat Kontakte zu Arbeitgebern gesucht, um das Konzept der Arbeitstherapie anzustoßen. Sie war Gründungsmitglied des Marsberger Vereins “Aktion Rehabilitationshilfe e.V.”. Auch die Wurzeln des Betreuten Wohnens, heute “Assistenz in eigener Häuslichkeit”, gehen auf sie und ihre Kolleg:innen zurück. “Angefangen haben wir mit verschiedenen Wohngemeinschaften”, erzählt Ingrid Vahlhaus. “Junge Frauen haben ein Stück weit die Verantwortung für ihr Leben wiederbekommen. Im Haus Schmenckenberg hatten wir eine Wohngemeinschaft für Männer, die bereits in der Klinik viele Fähigkeiten wieder erlernt hatten und nun in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Freizeit zunehmend mehr Verantwortung übernehmen konnten.”

Von Marsberg ging Waltraud Matern nach Münster. Bis zu ihrer Pensionierung 1992 war sie in der zentralen Psychiatrie-Beschwerdekommission des LWL tätig. “Waltraud Matern hat sich mit den Möglichkeiten eines selbstbestimmten Lebens mit einer psychiatrischen Erkrankung innerhalb und außerhalb der Klinik auseinandergesetzt. Psychiatrie war ihr Leben!”, sagt Ingrid Vahlhaus.

Prof. Dr. Franz-Werner Kersting, inzwischen pensionierter Mitarbeiter und auch kommissarischer Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte, gab das Buch Sozialarbeit in der Psychiatrie” heraus, mit Waltraud Matern als Autorin. Er würdigt ihre Verdienste: “Waltraud Matern war ein Verständnis Sozialer Arbeit eigen, das die therapeutische Dimension, die engagierte und empathische Arbeit an und mit der ‘Beziehung’ zu den Patientinnen und Patienten, ausdrücklich mit einschließt. Da die Soziale Arbeit in der Psychiatrie in der Anfangsphase ihrer Berufslaufbahn noch weitgehend Neuland war, eignete sie sich als ‘Pionierin’ das ‘Know-how’ psychiatrischer Sozialarbeit nicht entlang schon vorgefundener oder vorgegebener Konzepte und Curricula an, sondern mehr in ‘autodidaktischer’ Form und nach dem Muster ‘learning by doing’ in der Praxis.”

Info:

Prof. Dr. Franz-Werner Kersting (Herausgeber):
Sozialarbeit in der Psychiatrie
Erinnerungen an den Reformaufbruch in Westfalen (1960-1980)
herausgegeben von Franz-Werner Kersting
(Ardey-Verlag, Münster 2016)
158 Seiten, Klappenbroschüre
ISBN 978-3-87023-384-6
Preis: 16,90 Euro

Burkhart Brückner / Franz-Werner Kersting (Hrsg.):
Eine vergessene Geschichte:
Psychiatrische Sozialarbeit in Deutschland. Berichte, Dokumente und Analysen
aus der Bundesrepublik und der DDR (1960-1990)

Pressekontakt:
Julia Hollwedel, LWL-Klinikum Marsberg, julia.hollwedel@lwl.org und Thorsten Fechtner, LWL-Pressestelle, presse@lwl.org

 


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Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit mehr als 19.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.