Eine App soll den Uhrentest durchführen und künftig Demenzen erkennen
Der Uhrentest ist seit Jahrzehnten ein einfaches und effektives Verfahren, um räumliche Orientierungsstörungen und Demenzen zu diagnostizieren. Am Lehrstuhl für Mustererkennung im Department Informatik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler künstliche neuronale Netze mit 2500 solcher Tests „gefüttert”, um ihnen beizubringen, diese selbständig auszuwerten. Die Ergebnisse erscheinen in der Fachzeitschrift Scientific Reports*. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler planen zudem, eine Open Source Software auf den Markt zu bringen, die medizinischen und neuropsychologischen Fachleuten weltweit die Diagnose von Demenz erleichtern kann.
Uhrentest schafft mehr Gewissheit
Immer mehr Menschen erkranken an Demenz, sichere und einfache Diagnosemethoden sind entscheidend, um die Betroffenen möglichst früh medizinisch begleiten zu können. Weltweit wenden Ärztinnen und Ärzte hierfür den Uhrentest an. Das Verfahren ist standardisiert und einfach: Der Patient bekommt ein Blatt Papier mit einem vorgezeichneten Kreis vorgelegt und soll die Ziffern einer Uhr einzeichnen, um anschließend zum Beispiel die Uhrzeit 11.10 Uhr einzutragen.
Je nachdem, wie stark die Zeichnung von der richtigen Lösung abweicht, lassen sich Rückschlüsse auf das Ausmaß der Hirnfunktionsstörung ziehen. Die behandelnde medizinische Fachperson vergibt in der Bewertung des Tests üblicherweise Punkte, ähnlich wie Schulnoten zwischen eins und sechs. Ein Punkt bedeutet eine perfekte Lösung, bei drei ist die Uhr schon fehlerhaft, so ist vielleicht nur ein Zeiger eingezeichnet, aber die visuell-räumliche Darstellung ist noch in Ordnung. Mit steigender Punktzahl werden die gezeichneten Uhren immer unklarer: Die Zwischenräume zwischen den Ziffern sind ungleichmäßig, die Reihenfolge stimmt nicht, nur wenige Ziffern sind eingetragen, sie stehen außerhalb des Kreises, sind nur noch Kritzeleien. Ab drei Punkten gehen Medizinerinnen und Mediziner von einer relevanten kognitiven Störung, oft im Rahmen einer Demenz aus.
Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. med. Markus Weih war früher Leiter der Gedächtnisambulanz an der psychiatrischen Klinik, ist Buchautor und Autor zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen.  Aktuell ist er im Medic Center in Nürnberg tätig und externes Mitglied des Lehrstuhls für Neurologie der FAU, wo er in der Lehre tätig ist. Er sammelte drei bis vier Jahre lang in seiner Praxis 2500 Uhrentest von 1315 Patientinnen und Patienten.
Das Ziel von Prof. Andreas Maier vom Lehrstuhl für Mustererkennung der FAU war es, die Auswertung künstlichen neuronalen Netzen beizubringen, um medizinische und psychologische Fachleute in der Praxis zu unterstützen. Prof. Weih scannte Uhren und Testergebnisse ein und schickte die Daten an den Lehrstuhl.
Neuronale Netze füttern
Dort begann ein Team unter der Leitung von Prof. Maier damit, die Daten zu digitalisieren. Im Rahmen seiner Masterarbeit übernahm Harb Alnasser Alabdalrahim die Aufgabe, die tiefen neuronalen Netze der Hochleistungsrechner mit den Uhren zu „füttern”. In kurzer Zeit lernten diese, den Zeichnungen die richtige Diagnose zuzuordnen. „In über 96 Prozent der Fälle ordnen die neuronalen Netzwerke richtig zu, ob es sich um einen nicht-pathologischen oder einen pathologischen Befund handelt”, erklärt Prof. Maier. Und in über 98 Prozent der Fälle sei die zugeordnete Erkrankungsstufe korrekt. „Das sind sehr gute Ergebnisse.” Neu sind dabei nicht die Prozesse, es ist bekannt, wie in den tiefen Netzen die Verschaltungen gelernt werden, wobei sich der Lernalgorithmus deutlich von dem im menschlichen Gehirn unterscheidet.
Im Lehrstuhl für Mustererkennung speisen Forscherinnen und Forschere häufig Röntgenbilder oder Aufnahmen von Computertomographien und Magnetresonanztomographien in die künstlichen Netze ein, um diese für die Diagnostik einsetzbar zu machen. „Beim Uhrentest haben wir im Unterschied dazu mit Zeichnungen gearbeitet”, sagt Prof. Maier. Die große Datenmenge, die Prof. Weih aus seiner Praxis liefern konnte, sei ein Glücksfall gewesen. Nach über 1000 Trainingsiterationen konnten die künstlichen neuronalen Netze sehr genaue Ergebnisse liefern.
Ein einfacher aber guter Test
Die Hoffnung der Forschenden ist es, dass künftig eine einfach zu handhabende App medizinisches Personal in der Diagnose von Demenz weltweit unterstützen kann. „Das Personal muss natürlich auch künftig den Uhrentest kennen und standardisiert anwenden”, macht Prof. Maier deutlich, „doch anschließend kann es die App nutzen, um damit den Test abzufotografieren und sofort eine Auswertung zu bekommen.”  Wer sich in der Bewertung eines Tests unsicher sei, erhalte über die App eine Art Zweitmeinung. Dies bringe mehr Zuverlässigkeit in den Diagnosen sowie eine bessere Graduierung und Abgrenzung von Demenzfällen. Letzteres sei in der klinischen Forschung von großem Interesse.
*https://www.nature.com/articles/s41598-020-74710-9
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Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg