Münster (lwl). Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) will gegen den Mangel an Arbeitskräften in seinen Arbeitsgebieten Soziales, Kinder und Jugendliche, Psychiatrie und Maßregellvollzug kämpfen. “Uns fehlen nicht nur Fachkräfte, uns fehlen Arbeitskräfte überall”, sagte der Direktor des LWL, Dr. Georg Lunemann, am Donnerstag (30.3.) vor der Landschaftsversammlung in Münster.

Ähnlich wie die Corona-Krise Teile der Arbeitswelt in kürzester Zeit umgestülpt habe, brauche es einen “Arbeitskräfte-Alarm”, der neue Ideen und ihre schnelle Umsetzung provoziere. Lunemann sprach sich für ein Gesellschaftsjahr als staatsbürgerliche Pflicht aus: “Wir brauchen mehr Staatsbürger als Staatsnutzer.” Für die Ableistung eines Gesellschaftsjahres könne der LWL aus dem Stand rund 500 Plätze anbieten.

Der LWL wolle in mehreren Feldern mit gutem Beispiel vorangehen. Lunemann: “Menschen mit Behinderungen zum Beispiel sind ein Potential, das unsere Gesellschaft noch lange nicht ausgeschöpft hat. Warum sollte der LWL nicht sagen, dass wir innerhalb von sieben Jahren zehn Prozent dieser Menschen aus den Werkstätten in den ersten Arbeitsmarkt bringen? Warum soll der LWL nicht bis zum Jahr 2030 seine eigene Schwerbehindertenquote von knapp acht auf zehn Prozent hochschrauben?”

26.000 neue Arbeitskräfte bis 2033 gesucht

Nach der jetzigen Prognose müsse der LWL allein für den eigenen Bedarf innerhalb von zehn Jahren insgesamt rund 26.000 neue Kräfte gewinnen, so Lunemann. “In unserer Behindertenhilfe, in unseren Krankenhäusern und bei unserem Landesjugendamt sind ständig Stellen frei – bald wird es einfacher sein, ein westfälisches Wildpferd im Merfelder Bruch einzufangen, als eine Stelle neu zu besetzen.”

Fast ein Drittel der rund 20.000 LWL-Beschäftigen sei inzwischen über 55 Jahre alt. Ursache für den Mangel sei aber nicht allein der demografische Wandel. Die Lücke habe auch mit steigendem Personalbedarf wegen höherer Herausforderungen in allen Tätigkeitsfeldern des LWL zu tun. Lunemann: “Mehr Kinder in Förderschulen zum Beispiel, mehr Menschen mit Behinderungen in Werkstätten, mehr Plätze in unseren forensischen Kliniken, das wird die Realität in den kommenden Jahren.”

Auch Abschied von Regeln ohne Vorteile

Ein Bündel von Maßnahmen wie Digitalisierung der Verwaltung, bessere Arbeitsbedingungen für Beschäftigte und Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssten kommen, aber auch Abstriche bei den Leistungen für Bürgerinnen und Bürger seien nicht vermeidbar. Andererseits sei die Situation auch eine Chance, diejenigen Regeln über Bord zu werfen, die Arbeitszeit kosteten, ohne dass sie entscheidende Vorteile brächten. Hier seien der LWL, aber vor allem die Gesetzgeber in Düsseldorf und Berlin gefragt.

Staatssekretär: Alle Potentiale nutzen

Der Fachkräftemangel in den Sozial- und Erziehungsberufen sei nicht nur ein wirtschaftliches oder nur ein Problem bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sagte Staatssekretär Lorenz Bahr aus dem NRW-Familienministerium vor dem Westfalenparlament. “Es geht hier auch um Chancengerechtigkeit und sicheres Aufwachsen, es geht um Kindeswohl und Kindesschutz.” Deshalb sei es wichtig, bei der Fachkräftegewinnung alle Potentiale auszunutzen, wie Frauen mit kleinen Kindern, die gerne mehr arbeiten würden. “Ich möchte aber auch mehr Männer für die frühkindliche Bildung gewinnen. Wir können es uns auch nicht mehr leisten, die Zuwanderung fast ausschließlich als Problem zu betrachten und zugewanderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu benachteiligen”, so Bahr weiter.

Als konkrete Maßnahmen kündigte er an, dass Studienkapazitäten ausgeweitet werden sollen, die Träger das Personal flexibler einsetzen können, dass verwandte Berufsgruppen wie Psycholog:innen oder Kunstpädagog:innen als Fachkräfte anerkannt werden oder Personen die Berufserfahrung als Kindertagespfleger:innen haben, als Ergänzungskräfte in der Kita eingesetzt werden können.

Digitalisierung als Chance

LWL-Kämmerin Birgit Neyer sieht vor allem in der Digitalisierung eine große Chance, dem Fachkräftemangel zu begegnen. So könne technische Assistenz etwa dabei helfen, Menschen mit Behinderung in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. “Das wäre für alle Beteiligten eine Win-Win-Situation”, so Neyer. “Arbeitgeber können ihren Personalbedarf stillen, gleichzeitig wird ein Platz in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung verfügbar – und mit jedem behinderten Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt sinken die Kosten der Eingliederungshilfe.”

Abbruchquote in der Ausbildung drastisch gesenkt

Prof. Dr. Michael Löhr, Pflegedirektor des LWL-Klinikums Gütersloh, beschrieb das “Gütersloher Modell”: “Wir haben gegen den Trend und trotz Pandemie über 50 Vollzeitkräfte in der Pflege hinzugewonnen und als zufriedene Mitarbeiter:innen gehalten. Wir haben Hierarchien im Pflegedienst abgebaut und die Mitarbeitenden in Veränderungsprozesse einbezogen.” Ein großer Schwerpunkt liege auf der Ausbildung: “Wir haben ein hauptamtliches Praxisanleitersystem aufgebaut, das unsere eigenen 150 Auszubildenden und über 200 externe Auszubildenden betreut.” Das Ergebnis: Die Abbruchquote sank von durchschnittlich bundesweit 30 auf 12,9 Prozent im Gütersloher LWL-Klinikum.

LWL-Maßregelvollzugsdezernent Tilmann Hollweg wies daraufhin, dass auch im Maßregelvollzug neue Wege bei der Gewinnung und Qualifizierung von Personal notwendig seien, vor allem, weil die Pflege in der forensischen Psychiatrie mit Vorbehalten zu kämpfen habe und ein bisher eher unbekanntes Berufsfeld sei. Er stellte eine Personalkampagne des LWL-Maßregelvollzuges vor. Hollweg: “Die Zeiten, in der Pflegekräfte jede Art von Pflegetätigkeit übernehmen, sind vorbei. Die Differenzierung von Qualifikationsanforderungen gerade in der forensisch-psychiatrischen Pflege ist angesagt.” Wenn die forensische Pflegekraft daraufhin von fachfremden Tätigkeiten entlastet werden könne, danne trage das zur Attraktivität des Berufsbildes im Maßregelvollzug bei, so Hollweg.

Die Statements der Fraktionen

Marcus Stawars von der CDU-Fraktion machte drei Stellschrauben aus, an denen die Verantwortlichen drehen müssten: Digitalisierung, Personalgewinnung und Bindung des bestehenden Personals. Dies gelte nicht nur für den LWL, sondern auch in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung oder in den Kindertagesstätten anderer Träger. Außerdem sei der Gesetzgeber gefragt. Stawars: “Er muss sich auch ehrlich machen. Gesetzesänderungen mit noch mehr Bürokratie und permanente Standarderhöhungen werden die Versorgungslücke nur noch größer machen. Der Goldstandard wird nicht mehr machbar sein.”

Für die SPD forderte Martina Schnell, die Zahl der befristeten Arbeitsverträge beim LWL deutlich zu reduzieren. “Insbesondere gilt es, sachgrundlose Befristungen zu vermeiden”, so Schnell. Der LWL müsse außerdem seine Auszubildenden stärker mit dem Angebot preiswerter Wohnungen unterstützen und weiter den Beschäftigten helfen, die sowohl ihre Kinder betreuen als auch Angehörige pflegen – “Elternprobleme, sehr häufig Mütter-Probleme”.

“Das Potenzial von Frauen ist beim Fachkräftemangel ein zentrales Thema”, konstatierte auch Gertrud Welper von Bündnis 90/Die Grünen. Die Frage nach der Kinderbetreuung sei für Frauen im Beruf oft vorrangig, die Kinderbetreuung in den Kommunen sei aber zum Teil “miserabel”. Welper: “Care Arbeit ist der zentrale Faktor dafür, dass Frauen vom Arbeitsmarkt weggehalten werden.” Der LWL brauche für die Antwort auf diese Fragen die kommunale Familie, aber auch mehr Unterstützung von Bund und Land.

Arne Hermann Stopsack von der Fraktion FDP/Freie Wähler sprach von einem “Kräftemangel in der Gesamtwirtschaft”. Er warnte vor einer drohenden “Unwucht”, wenn immer mehr Menschen in den Öffentlichen Dienst gingen und aus produzierender Wirtschaft, Gewerbe und Dienstleistungen abgesaugt würden.

Sascha Menkhaus (AfD) forderte neue Konzepte statt “Geldgießkanne”. Ein überfürsorglicher Staat sabotiere den Ehrgeiz der Einzelnen. Laut Rolf Kohn von der Fraktion Die Linke.Die Partei würden sich die Rahmenbedingungen durch die “Aufrüstung der Bundeswehr” noch weiter verschlechtern.

Pressekontakt:
Frank Tafertshofer, LWL-Pressestelle, presse@lwl.org

 


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Der LWL im Überblick:
Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) arbeitet als Kommunalverband mit mehr als 19.000 Beschäftigten für die 8,3 Millionen Menschen in der Region. Der LWL betreibt 35 Förderschulen, 21 Krankenhäuser, 18 Museen sowie zwei Besucherzentren und ist einer der größten deutschen Hilfezahler für Menschen mit Behinderung. Er erfüllt damit Aufgaben im sozialen Bereich, in der Behinderten- und Jugendhilfe, in der Psychiatrie und in der Kultur, die sinnvollerweise westfalenweit wahrgenommen werden. Ebenso engagiert er sich für eine inklusive Gesellschaft in allen Lebensbereichen. Die neun kreisfreien Städte und 18 Kreise in Westfalen-Lippe sind die Mitglieder des LWL. Sie tragen und finanzieren den Landschaftsverband, dessen Aufgaben ein Parlament mit 125 Mitgliedern aus den westfälischen Kommunen gestaltet.