Wie erkennt das Gehirn, ob die Körpersprache neutral ist?

Tübinger Studie zeigt Beteiligung des limbischen Systems

Tübingen, 08.10.2020

Der Gang der herannahenden Frau erschien sehr wütend – oder vielleicht doch nicht? In Zeiten der Pandemie und Schutzmasken ist Körpersprache noch wichtiger für die soziale Kommunikation geworden. Wie erkennen wir aber, ob soziale Signale wie Körpersprache neutral sind? Im Gegensatz zur Erkennung emotionaler Signale ist diese Frage in den Neurowissenschaften noch kaum untersucht. Allerdings ist sie von großer Relevanz, insbesondere bei psychischen und neurologischen Erkrankungen, bei denen die emotionalen Ausdrücke anderer überbewertet werden.

Tübinger Forscher um Professorin Marina Pavlova und Professor Andreas Fallgatter von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie sind diesem Thema mittels Magnetresonanztomografie bei gesunden Versuchspersonen nachgegangen. In Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen aus der Schweiz und Großbritannien haben sie unter Anwendung moderner Methoden untersucht, wie das Gehirn fehlende Emotionalität in der Körpersprache anderer Menschen wahrnimmt und bewertet.

Die überraschenden Ergebnisse zeigen, dass das limbische System an der Erkennung neutraler Körpersprache maßgeblich beteiligt ist. Die Kommunikation zwischen der rechten Amygdala und der Inselregion kann nämlich dazu genutzt werden, vorherzusagen ob der neutrale Ausdruck richtig erkannt wird. Bisher wurde angenommen, dass diese Bestandteile des limbischen Systems ausschließlich zur Wahrnehmung von Emotionen beitragen. Die in der renommierten Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA erschienenen Befunde legen nahe, dass die Verarbeitung von Emotionen und die Erkennung neutraler Ausdrücke im limbischen System eng verzahnt sind.

Diese neue Studie wird zum besseren Verständnis der Verarbeitung sozialer Signale im Gehirn beitragen. Eine besondere Relevanz ergibt sich für die künftige Forschung im Bereich psychischer und neurologischer Erkrankungen, bei denen neutrale Signale als emotional fehlinterpretiert werden, wie Autismus, Depression, Demenz oder Schizophrenie, aber auch Schädelhirntrauma oder Schlaganfall. Weiterführende Studien könnten neue Verfahren für Diagnostik und Behandlung nach sich ziehen.

Titel der Originalpublikation

Sokolov AA, Zeidman P, Erb M, Pollick FE, Fallgatter AJ, Ryvlin P, Friston KJ & Pavlova MA. 2020. Brain circuits signalling the absence of emotion in body language. Proc Natl Acad Sci U S A, 117, 20868-20873.

 

Bildunterschrift

Illustration der Punktlichtkörperbewegung. Punkte (hier in Orange) befinden sich an den Hauptgelenken einer gehenden Person, die den Marktplatz in der mittelalterlichen Innenstadt von Tübingen überquert. Nur die sich bewegenden Punktlichter vor einem dunklen Hintergrund bleiben als experimentelle Reize erhalten. Das künstlerische Bild wurde von Prof. Marina Pavlova erstellt. Aus Sokolov et al. (2018). Structural and effective brain connectivity underlying biological motion detection. The Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA.

 

Medienkontakt
Universitätsklinikum Tübingen
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
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